Kind 44 by Smith Tom Rob

Kind 44 by Smith Tom Rob

Autor:Smith, Tom Rob [Smith, Tom Rob]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Thriller
veröffentlicht: 2010-08-02T22:00:00+00:00


20. März

Raisa berührte den Fensterrahmen. Die Nägel, die man hinein‐

gehämmert hatte, um das Schlafzimmerfenster zu verschließen, waren alle herausgezogen. Sie wandte sich um, ging zur Tür und machte sie auf. Im Flur konnte sie von unten den Lärm des Res‐

taurantbetriebs hören, aber von Basarow war nichts zu sehen. Es war später Abend, da hatte er immer am meisten zu tun. Raisa machte die Tür zu und schloss ab. Dann ging sie zurück zum Fens‐

ter, öffnete es und spähte hinunter. Unmittelbar unter ihr befand sich eine Dachschräge, sie gehörte zur Küche. Dort, wo Leo hin‐

untergeklettert war, war der Schnee zerwühlt. Raisa kochte vor Wut. Kaum waren sie beide mit knapper Not davongekommen, musste er schon wieder ihrer beider Leben aufs Spiel setzen. Heute war Raisas zweiter Tag an der Oberschule Nr. 151 gewe‐

sen. Der Schuldirektor Vitali Kolsowitsch, ein Mann Ende vierzig, war überaus erfreut gewesen, dass Raisa in sein Kollegium eintrat, denn sie hatte viele seiner Stunden übernommen und es ihm ermöglicht, sich mehr um den Papierkram zu kümmern. Das zumindest hatte er behauptet. Raisa war sich nicht so sicher, ob ihre Ankunft ihm erlaubte, sich wirklich anderen Aufgaben zu widmen oder einfach nur weniger zu arbeiten. Auf den ersten Ein‐

druck wirkte er wie ein Mann, der sich lieber hinter einem Buch verkroch, als zu unterrichten. Trotzdem war Raisa mehr als froh gewesen, sofort mit der Arbeit anzufangen. Von der Handvoll Stunden zu urteilen, die sie bisher erteilt hatte, schienen ihr die Schüler hier in politischer Hinsicht weniger ausgebufft zu sein als die in Moskau. Sie brachen nicht jedes Mal in Applaus aus, wenn der Name eines wichtigen Kaders fiel, wetteiferten nicht so heftig darum, ihre Loyalität zur Partei zu demonstrieren, und kamen ihr überhaupt viel mehr wie ganz normale Kinder vor. Sie stamm‐

ten aus den unterschiedlichsten Verhältnissen, aus Familien, die man aus allen Ecken des Landes zusammengewürfelt hatte und deren Erfahrungshintergründe vollkommen unterschiedlich wa‐

ren. Ähnliches traf auf das Kollegium zu. Fast alle Lehrer waren aus anderen Gegenden nach Wualsk versetzt worden. Da sie Ähn‐

liches durchgemacht hatten wie sie selbst gerade, behandelten sie Raisa einigermaßen freundlich. Natürlich waren sie misstrauisch. Wer war sie? Warum war sie hier? War sie das, was sie zu sein vorgab? Aber das machte Raisa nichts aus, solcherlei Fragen stell‐

ten sich die Leute bei jedem. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft konnte Raisa sich vorstellen, dass man sich hier ein Leben aufbau‐

en könnte.

Sie dehnte ihren Aufenthalt in der Schule noch bis zum späten Nachmittag aus und bereitete ihre Stunden vor. Die Schule Nr. 151

war um einiges bequemer als ihre laute stinkende Kammer über dem Restaurant. Die schäbigen Bedingungen sollten eine Strafe sein, aber während sie Leo störten, waren sie gegen Raisa eine stumpfe Waffe. Noch vor allem anderen war sie ungewöhnlich an‐

passungsfähig. Sie hing weder an Häusern, noch an Städten oder Besitztümern. Solche Gefühle waren ihr fremd, man hatte sie ihr an dem Tag ausgetrieben, als sie als Kind die Zerstörung ihres Heims erlebt hatte. In einem der ersten Kriegsjahre, sie war sieb‐

zehn, hatte sie gerade im Wald nach etwas Essbarem gesucht, Pil‐

ze in der einen Tasche, Beeren in der anderen.



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